Der Montag startet erfahrungsgemäß mit einem vollen Postfach. Das gehört zur Grundausstattung eines jeden Jobs mit E-Mail-Adresse dazu. Mein persönlicher Wettbewerb mit mir selbst besteht jede Woche aufs Neue daraus, es vor dem Morgenteam geschafft zu haben, alle E-Mails gelesen zu haben. Und was soll ich sagen? Jeder Mensch sollte Träume haben ...
Also geht es wie gewohnt mit vielen ungelesenen E-Mails in die Übergabe, wo wir ein bisschen erfahren, wie das Wochenende lief und der Eindruck des Morgens berichtet wird. Das ist immer wieder goldwert. Ganz schön oft bin ich neidisch, am Wochenende nicht ab und an Dienst zu haben und ein paar von den kleinen glitzrigen Glücksmomenten mitzuerleben, die sich die Patient:innen da ab und an selber basteln.
Nach dem Team entsteht in aller Regel eine sehr lange Schlange vor dem Kaffeeautomaten. Ich bin Nicht-Kaffeetrinker und habe immer freie Fahrt am Wasserspender. Für alle, die sich schon immer gefragt haben, warum ich mein Sprudelwasser in Tassen statt Gläser fülle: In der Tasse ist die Wahrscheinlichkeit überzufällig groß, dass bis zu 100 Prozent in meinem Büro im ersten Stock ankommen. Bei einem Glas bewässere ich in erster Linie das Treppenhaus, da zu viele zu schwer zu öffnende Türen im Weg sind und zu viel Koordinationsarbeit mit anderen zu transportierenden Utensilien ansteht, als das nichts überschwappen würde. Anhand vieler verräterischer Wasserspuren, für die ich ein detektivisches Auge habe, kann ich erahnen, dass es den meisten anderen Kolleginnen und Kollegen ähnlich geht ...
Wie dem auch sei: Im Büro angekommen, vollende ich dann den misslungenen Wettbewerb mit den E-Mails. Und dann klingelt meist schon das Telefon. Der Montag steht bei mir nämlich ganz unter dem Zeichen des Erstgesprächs. Und sobald alle Daten von unserem Besuch aufgenommen wurden, geben mir die Schwestern Bescheid, dass ich nun mit meinem Fragenkatalog vorbeischauen darf.
Ich mag Erstgespräche sehr. Für beide Seiten ist es ja immer ein Überraschungspaket, auf wen man jetzt gleich stoßen wird. Für die Betroffenen ist es wahrscheinlich eher mit ein bisschen Unsicherheit, vielleicht sogar Angst und Misstrauen verbunden. Für mich mit ganz viel Interesse und Neugier, wen ich gleich kennen lernen darf.
Manchmal sage ich zu unseren Patientinnen und Patienten, dass sie für mich alle Helden sind. Weil sie jeden Tag erneut in den Ring gegen diese tückische Krankheit steigen und für ein freies und buntes Leben kämpfen. Wenn sich jemand zum Erstgespräch anmeldet, hat er für mich seinen ersten großen Heldenschritt getan. Ich kann mir nicht vorstellen, wie viel Überwindung, wie viel Mut und wie viel innere Diskussion es wohl kosten muss, sich für eine Therapie zu entscheiden, wenn ein großer Teil des eigenen Selbst zumindest anfangs noch überhaupt keine Therapie möchte und in der Essstörung eine Freundin, einen Halt und eigentlich das ganze Lebenselixier sieht.
Mit diesen Gedanken gehe ich jedenfalls immer in die Erstgespräche. Oft stoße ich auf ganz viel Zerbrechlichkeit, auf einen großen Schutzpanzer und gleichzeitig auf so viel Not und Hoffnung auf Hilfe. Dann geht es um Vorsicht und Respekt, um ein gemeinsames Rantasten an die Verletzlichkeit.
In so einem Erstgespräch findet das, was man sonst in einem Therapieprozess aufbaut, im Schnelldurchlauf statt: Kennenlernen, Vertrauen entwickeln und dabei immer mehr Worte finden, die dem Gegenüber erzählen können, was in der Seele vor sich geht.
Ich bringe jede Menge Fragen mit, interessiere mich dafür, wie sich die Essstörung gerade genau zeigt, wie es Körper und Psyche damit geht, wann und wie das Essen zu einem so großen Thema werden musste und welche markanten Pfeiler und Wendepunkte es vielleicht schon in dem ja noch so jungen Leben gab.
Alle Fragen sind Einladungen, etwas teilen zu können, nicht mehr allein sein zu müssen. Und je mehr Antworten den Weg zu mir finden, umso besser kann ich verstehen und überlegen, was das Gegenüber jetzt gerade womöglich am besten brauchen könnte. Denn so sehr sich Essstörungen und die Patient:innen in vielem ähneln: Jede Essstörung ist eine individuelle Geschichte. Und jeder Mensch, der vor mir sitzt, ist neben und auch mit seiner Diagnose einzigartig. Wenn ich davon im ersten Kontakt schon ein bisschen sehen und erfahren darf, ist das das größte Geschenk.
Meistens will ich also ganz schön viel wissen und manchmal bringen auch die Betroffenen ein paar Fragen mit. Wenn ich dann eine erste Idee von meinem Gegenüber habe und das Gegenüber eine erste Idee vom TCE, dann setzen wir uns gemeinsam mit jemandem aus dem Leitungsteam zusammen und überlegen, wie es nun gut weitergehen könnte. Das TCE ist eine mögliche Option. Ziemlich oft passt die ziemlich gut. Manchmal passt sie aber auch nicht oder noch nicht. Dann schauen wir, was zuerst oder stattdessen getan werden könnte. Die Entscheidungsgewalt bleibt dabei immer da, wo sie hingehört: bei den Betroffenen und gegebenenfalls ihren Familien.
Wir können ein Leuchtturm sein, der einen oder verschiedene Wege aufzeigt. Ob und welchem Lichtstrahl die Person dann folgt, liegt nicht in unserer Hand. Manchmal ist das nicht gut auszuhalten, wenn man einen Pfad ausleuchtet, der jetzt gut und richtig und wichtig wäre zu gehen, zu dem die/der Betroffene jedoch noch nicht bereit ist. Und gleichzeitig zeigt die Erfahrung: Schubsen als alleiniger Impuls ist allermeistens kein guter Start. Einen ersten kleinen eigenen Schritt sollte die Person selbst machen, schließlich braucht es im Verlauf neben aller Unterstützung und Begleitung jede Menge Eigeninitiative. Ganz am Anfang diesbezüglich schon den ersten Samen zu säen, ist eine wichtige Grundlage.
Nach dem Erstgespräch entlasse ich die Betroffenen also erstmal angefüllt mit vielen neuen Informationen und Angeboten an die frische Luft, bis wir uns meistens einige Tage später noch mal hören und besprechen, ob der Weg am TCE eingeschlagen werden soll. Wenn dann ein entschiedenes „Ja" – oder vielleicht auch nur ein verhaltenes oder eins, wo noch ein kleines Fragezeichen dahintersteht – durchs Telefon dringt, freue ich mich jedenfalls immer schon drauf, wenn wir uns irgendwann fest am TCE begegnen und ich zusammen mit dem Rest des Teams weiterhin ein bisschen Leuchtturmlicht für einen neuen Weg schenken kann.
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Jan Winzinger ist Psychologe (M.Sc.), Systemischer Therapeut und Familientherapeut und seit Anfang 2019 im TCE.