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TCE-Blog

13. Juli 2022 · Erfahrungsbericht

Freitag

Freitags bin ich nicht im Haus, daher könnte ich nur aus Zweit- und Drittquellen über die entsprechenden TCE-Aktivitäten spekulieren. Da das aber ja unseriös ist, bleibe ich einfach ganz bei mir.
Manche Kolleginnen vermuten ab und an, ich würde freitags gerne die Beine hochlegen und das Wochenende schon mal präventiv einleiten. Andere kennen mich schon zu gut und wissen, dass ich permanent im Dienste irgendwelcher psychologisch wertvollen Dinge unterwegs bin. Ich habe den Ruf weg, meinen Urlaub gerne in Weiterbildungen zu verbringen oder auf Balkonien Fachbücher zu inhalieren. Das ist tatsächlich nicht so ganz unwahr. Und daher betreibe ich also auch freitags kein Couchsurfing, sondern begleite ambulant ein paar Klienten in einer Beratungsstelle. In der Regel sind die mehr als doppelt so alt wie meine Patient:innen im TCE und nur selten taucht Essen als Thema auf. Ein bisschen ist es also wie eine andere Welt. Und dann gleichzeitig auch wieder gar nicht.

Als systemischer Therapeut habe ich einen sehr gelassenen Blick auf Diagnosen. Manchmal erscheinen sie mir hilfreich, manchmal eher weniger und meistens verraten sie mir gar nicht so viel über mein Gegenüber. Ähnlich verhält es sich mit Alter, Geschlecht und was sonst noch so im Außen umherfliegt. Selbstverständlich bilden solche Angaben ein gutes, informatives Gerüst, das einem nicht selten Orientierung gibt, aber letztendlich ist es ja das Haus, um das das Gerüst gebaut ist, um das es geht und das viel spannender und aussagekräftiger ist. Und so ist der einzige Unterschied zwischen dem TCE und der Beratungsstelle eigentlich nur die äußere Bühne, auf der ich meinem Gegenüber begegne. Jedes Mal stehe ich also bildlich gesprochen ganz neugierig an der Haustür zum Inneren der Menschen, die den Weg zu mir finden, klingele und darf schließlich nach und nach ein paar Zimmer betreten – und dabei versuche ich dann möglichst offen und ohne einen mir schon diagnostisch oder anderweitig zurechtgelegten Grundriss durch diese inneren Räume zu laufen.

Als ich irgendwann beschloss, Psychologe zu werden, hatte ich die Vorstellung, dass ich nach den vielen Jahren der universitären und im Anschluss therapeutischen Ausbildung sehr weise sein und den Menschen verstanden haben werde. Vielleicht sah ich damals mein zukünftiges Therapeuten-Ich wie eine menschliche Bedienungsanleitung, die für alle Fehlmeldungen und Störungen die Lösung parat hat.

Was soll ich sagen? Das ist natürlich völliger Quatsch! Inzwischen habe ich eine sehr andere Meinung dazu. Zusammengefasst sieht die wahrscheinlich so aus: Ich weiß ganz schön wenig.
Also ich weiß natürlich jede Menge über die Psyche als solche, über ihre Funktionsweise und über ihre Mechanismen. Ich weiß, was das Gehirn so treibt und welche Entwicklungsschritte der Mensch im Laufe seines Lebens inklusive der verschiedenen Herausforderungen, die da so auf ihn warten, auf neuronaler, interaktionaler und emotionaler Ebene durchläuft. Ich weiß alles Mögliche über Störungsbilder und Interventionsmöglichkeiten.

Das heißt: Ein bisschen was habe ich an der Uni und während der ganzen Ausbildungen schon aufgeschnappt. Und gleichzeitig ist es so: Wenn mir ein Mensch gegenübersitzt, weiß ich erstmal noch gar nichts. Natürlich sind da die Theorien und Schablonen im Hinterkopf, die helfen können, manches zu verstehen. Aber ich hüte mich nach Möglichkeit davor, sie an die erste Stelle zu rücken und dann das einzusortieren, was mir das Gegenüber erzählt. Manchmal macht mir da das eigene Gehirn sicher einen Strich durch die Rechnung und hat schon Ideen zur Kategorisierung und zum Umgang mit irgendwas im Kopf, ehe ich überhaupt genau zugehört und verstanden habe. Dann ist es gut, wenn ich mich dabei ertappe und das eigene Wissen erstmal wieder gut verstaue, während ich dem Patienten/der Patientin wieder die volle Aufmerksamkeit schenke und wirklich voll und ganz bei ihm/ihr bin.

In der systemischen Ausbildung kriegt man von Anfang an eingebläut, dass man sich selbst nicht als zu wichtig nehmen und vor allem vorsichtig sein sollte, wenn man schnell den Eindruck hat, irgendwas überrissen zu haben. Das finde ich sehr sympathisch. Wenn ich mit Patient:innen arbeite, ist es natürlich so, dass ich den Expertenhut für die Psychologie und Psychotherapie im Allgemeinen aufhabe. Ich sollte den Rahmen stecken, Orientierung und Struktur geben und immer mal wieder neue Impulse geben. Aber gleichzeitig ist auch ganz klar, dass der Patient/die Patientin Experte oder Expertin für sich selbst ist. Wenn es um alles Inhaltliche geht, sollte ich also geduldig lauschen und vom inneren Erfahrungsschatz meines Gegenübers lernen.

Was ich mit all dem sagen will... wenn ich als Therapeut vor meinen Patient:innen sitze – egal, ob am TCE oder in der Beratungsstelle –, sollte immer diese Person auf der Bühne stehen und ich mit einem großen Paket an Respekt, Interesse und Vertrauen in ihre Expertise im Zuschauerraum sitzen. Natürlich komme ich ab und an mit auf die Bühne und wir gestalten zusammen etwas. In meinen Augen sollte es allerdings nie passieren, dass ich auf der Bühne rumturne und die Patient.innen von unten dabei zuschauen. Ich fürchte, dass wir als Therapeuten ab und an in diese Falle tappen. Dann finde ich es ziemlich wichtig, fix wieder aus dem Scheinwerferlicht rauszuhüpfen und das Gegenüber zurück ins Licht zu rücken.

Ab und an sagen oder machen wir vermutlich Dinge, die nicht richtig oder gut sind. Ich finde, das ist menschlich und okay. Schwierig wird es nur dann, wenn wir uns nicht mehr hinterfragen und gleichzeitig den Patient:innen Unzurechnungsfähigkeit attestieren. Dann entsteht ein ziemlich unangemessenes Gefälle. Ich glaube, die therapeutische Welt ist eine bessere, wenn wir uns als Therapeut:innen unserer eigenen Fehlbarkeit und gleichzeitig der Kompetenz unserer Patient:innen bewusst sind.
In diesem Sinne: Lasst uns zusammen Fehler machen und uns miteinander weiterentwickeln. Am Ende des Tages lernen wir von unseren Patient:innen bestimmt genauso viel wie umgekehrt. Und wenn wir unser jeweiliges Expertentum teilen und austauschen, dann, so glaube ich, kann wirkliche Heilung und Wachstum entstehen.

 

Bildnachweis: Adobe Stock

Über den Autor der TCE-Männer-Kolumne

Jan Winzinger ist Psychologe (M.Sc.), Systemischer Therapeut und Familientherapeut und seit Anfang 2019 im TCE.