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19. April 2023 · Erfahrungsbericht

Was bedeutet das wirklich – ein Tag in der Krankheit?

Zu Beginn der Therapie schreiben unsere Patientinnen einen „Tag in der Krankheit“, in dem sie reflektieren, wie stark die Essstörung ihr Denken, Fühlen und Handeln vereinnahmt hat. Unsere Autorin hat diesen Schreibauftrag zum Anlass genommen, sich selbst mit schonungsloser Ehrlichkeit zu hinterfragen und einen ganz eigenen, individuellen „Tag in der Krankheit“ zu verfassen.

Ich sitze gerade hier vor dem IPad und blicke auf die fünf verschiedenen Entwürfe, die alle ein und denselben Titel tragen: "Tag in der Krankheit".

Die fünf verschiedenen Textdateien unterscheiden sich zwar in ihren Details voneinander, sind sich aber in ihrem Kern zum Verwechseln ähnlich; sie alle stammen, so habe ich das Gefühl, gar nicht von mir selbst.

Nicht ich habe sie verfasst, sondern meine Essstörung.

Sie hat für mich getippt, hat das jeweils Schlimmste aus den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten ausgewrungen wie aus einem versifften Handtuch, und es an meiner Stelle zu Papier gebracht.

Um sich zu beweisen.

Um allen, die hier um mich herum sitzen, zu zeigen, wie schrecklich unser gemeinsames Leben, wie kräftezehrend mein Kampf mit ihr und gegen sie, wie mächtig, wie präsent sie in meinem Leben war und auch heute noch viel zu oft ist.

Jedem, der bis heute vielleicht noch einen Zweifel daran gehegt hat, ob ich wirklich krank genug, ob meine Essstörung schlimm genug, ob mein Leben schrecklich genug war, ob ich es wirklich verdient habe, hier zu sein, Hilfe zu bekommen, klarzumachen, wie krank ich sein kann; das war das erklärte Ziel meiner Essstörung, als sie sich diese fünf Entwürfe aus den Fingern gesogen hat.

Hätte ich diese Entwürfe vor einigen Wochen gesehen, hätte mich an ihnen nichts gestört; ich hätte meiner Essstörung geglaubt, hätte geglaubt, mich hier beweisen zu müssen, zeigen zu müssen, wie krank ich sein kann, wie krank ich bin, um Hilfe zu verdienen.

Zu zeigen, wie sehr ich leide, wie sehr mich meine Essstörung kontrolliert, das war vor gar nicht allzu langer Zeit nicht nur das Ziel meiner Essstörung, es war auch meines.

Doch das ist es heute nicht mehr.

Nicht, weil meine Essstörung plötzlich leise ist oder nun nicht mehr von mir verlangt, die schlimmsten Details, die Tage mit den wenigsten Kalorien oder die Momente mit dem größten Leid nochmals zu durchleben; das tut sie auch jetzt noch, aber mit einem bedeutenden Unterschied.

Ich höre ihr nicht mehr zu.

Ich höre nicht mehr hin, weil ich verstanden habe, dass das eigentlich Schlimmste, das, was alle meine kranken Tage miteinander verbindet und sie in ihrer Summe so schrecklich macht, genau das ist, dass es genau das ist, was mich in der Krankheit gehalten und mich dazu gebracht hat, jeden Tag noch leidvoller zu gestalten als den vorangegangenen: die Stimme, die mir einredet, ich sei nicht krank genug.

An keinem Tag, in keinem Moment war ich für diese Stimme, für meine Krankheit, meine ständige Begleiterin, auch nur annähernd krank genug.

Mit dieser Stimme, die sich in meinem Kopf eingenistet hat, zu leben, fühlt sich an, wie Rennen im Traum; man kommt niemals wirklich an.

Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, meinen Tag in der Krankheit auf einem Konstrukt aus gezählten Kalorien, geschlossenen Ringen auf einer Apple Watch und Momenten über der Kloschüssel aufzubauen; denn auch wenn ich leider wirklich nicht behaupten kann, mein Essverhalten sei gesund, weiß ich doch, dass die Krankheit, unter der ich leide, etwas ganz Anderes ist.

Und so waren meine schlimmsten Tage in der Krankheit wider Erwarten nicht die mit der geringsten Menge an Nahrung, mit der geringsten Energie und den schlimmsten körperlichen Beschwerden, sondern jene, an denen mein scheinbar gesundes Essverhalten und mein von außen betrachtet gesunder Körper die Menschen um mich herum blind für das Leid in meinem Inneren machte.

Die Tage, an denen beide Seiten an mir zogen und zerrten; die gesunde und die kranke, und ich in der Mitte stand und es keiner von beiden auch nur im Ansatz recht machen konnte.

Tage, an denen ich viel zu wenig für meine gesunde, aber immer noch viel zu viel für meine kranke Seite aß.

Tage, die wie im Flug an mir vorüberzogen, während ich, wie von meinen eigenen Gedanken betäubt, hinter einer dicken Plexiglasscheibe aus Selbstabwertung und Zweifeln stand und es nicht wagte, mich zu rühren.

Tage, an denen ich wieder und wieder ein Lächeln aufsetzte, mich bemühte, mir nichts anmerken zu lassen, weiterzumachen, stark zu sein, niemanden zu enttäuschen, niemanden zu belasten, keine schöne Situation mit meinen Problemen kaputt zu machen; nicht ahnend, dass ich genau das mit mir selbst tat.

Jeder einzelne Tag in den vergangenen drei Jahren, der damit begann und endete, dass ich vor dem Spiegel stand und nichts als Hass für die Person empfand, die mir aus dem kalten Glas entgegenstarrte; vollkommen egal, wie sie aussah, wieviel sie wog, was sie leistete, sie war mir niemals genug.

Ich war mir niemals genug.

Wie ein furchtbarer roter Faden zog sich dieses eine Gefühl durch meine letzten Jahre; das Gefühl des „Niemals genug seins“.

Nicht schön genug, nicht schlau genug, nicht diszipliniert genug, nicht mutig genug, nicht beliebt genug, nicht krank genug.

Jede Erinnerung, die ich aus den letzten drei Jahren mitgenommen habe, beinhaltet ein kleines Stück, einige wenige Fasern dieses roten Fadens, dieses Gefühls, niemals ausreichen zu können, niemals ausreichend zu sein; und genau das ist der Grund dafür, dass ich hier heute nicht den einen, den schlimmsten, den furchtbarsten, essgestörtesten, traurigsten Tag vorlesen kann: es gibt ihn nicht.

Es gibt nicht „den einen“ Tag in der Krankheit, der durch besonders wenig Essen, besonders viel Bewegung, besonders häufiges Erbrechen oder besonders viel Leid hervorsticht, der herausragt und meiner Essstörung als Beweis, als furchtbare Validierung meiner Erkrankung dient.

Es gibt nicht „den einen“ Tag, der all das in sich bündelt, was ich durch meine Essstörung an Leid erfahren und an schönen Momenten verpasst habe.

Es gibt ihn deshalb nicht, weil es kein einzelner Tag war, der meine Essstörung für mich zu der schrecklichen Fußfessel, der grauenhaften Begleiterin gemacht hat, die sie mir all die Jahre war; sondern die Summe aus all diesen Tagen.

Die Summe aus jedem hasserfüllten Blick in den Spiegel, jedem Moment, in dem ich meinen Körper vermieden, meinen Charakter abgewertet und mich selbst für meine wichtigsten Grundbedürfnisse geschämt habe.

Aus jedem abgesagten Treffen mit Freundinnen, jedem gekauften und nie getragenen Kleidungsstück, jedem verpassten Lachen, das die Mauer aus Selbstzweifeln und Unsicherheit nicht überwinden konnte und mir im Hals stecken blieb.

All das sind sie, die kleinen Fasern und Stückchen des roten Fadens, an dem ich mich so lange festgehalten habe, den ich hier in der Therapie aber langsam durchzuschneiden beginne, die kleinen Siege meiner Essstörung, durch die sie immer größer und mächtiger werden und ihre Mauern immer höher um mich herum auftürmen konnte.

So wie das Glück des Lebens die Summe kleiner Freuden ist, ist das Leid, das ich in den letzten Jahren durch meine Essstörung erfahren habe, die Summe aus all den kleinen Dingen, die sie mir genommen, die ich mir habe nehmen lassen und die ich niemals wieder zurückbekommen kann.

Ich werde niemals die Chance bekommen, die letzten drei Jahre nochmal zu durchleben, ganz egal, wie sehr ich mir in manchen Momenten auch wünschen mag, einen Reset-Knopf drücken und alles nochmal, alles besser machen zu können; und das ist auch okay so.

Denn ich habe etwas viel besseres als eine Chance auf eine Wiederholung der letzten drei Jahre; nämlich die vielen weiteren, noch nie von mir erlebten, die nun vor mir liegen wie die leeren Seiten eines dicken Buchs, die darauf warten, von mir bemalt und vollgeschrieben, gelebt und genossen zu werden und die ich mir nun nie wieder mit der Essstörung teilen muss, die all meine Zeichnungen und Pläne in der Vergangenheit schwarz übermalt hat, die nun zudem nur noch einer einzigen Person gehören: mir selbst.

Genauso, wie ich ab heute nur noch einer Person gehöre: mir selbst.

 

Bildnachweis: TCE/Jacobs

Über die Autorin

Nina, 19 Jahre, Patientin der Intensivphase