Am Ende ihrer Therapie im TCE halten unsere Patient:innen in der letzten Gruppenstunde eine Abschlussbilanz, in der sie ihre Zeit am TCE noch einmal Revue passieren lassen. Diese Bilanz wird ganz individuell gestaltet. Manche Patientinnen zeigen Diashows, andere lesen lange Texte vor, wieder andere überraschen mit ungewöhnlichen Ideen wie z. B. einem Abschlusstanz. Nina hat ihren ganz eigenen Zugang zu ihrer Abschlussbilanz gefunden.
Es ist 15:14 Uhr.
Ich sitze in TWG 2 auf der Couch, den Laptop auf dem Schoß, Ladekabel angeschlossen, Air Pods in den Ohren und in meinem Kopf herrscht zu diesem Zeitpunkt, was das Thema „Abschlussbilanz“ angeht, derart gähnende Leere, dass es schon allein an der Kreativität, die für eine spannende Überschrift benötigt würde, mangelt.
Unvorstellbar eigentlich; dabei habe ich doch die vergangenen acht Monate auf diesen Moment hingefiebert: die letzten Wochen und Tage hier erleben, meinen Auszug planen, Abschlussuntersuchung und letztes Einzel und natürlich: die perfekte Abschlussbilanz.
Wer mich, meinen Perfektionismus und meinen Hang dazu, alles bis ins kleinste Detail zu überdenken, kennt, weiß, dass ich auf keinen Fall übertreibe, wenn ich sage, dass mir bereits in meinen ersten TCE-Wochen tausend tolle Ideen für meine - zu diesem Zeitpunkt noch meilenweit entfernt in der Zukunft liegende - Abschlussbilanz im Kopf herumschwirrten und ich es kaum erwarten konnte, mich endlich damit zu beschäftigen, wie ich am besten von dem Ort Abschied nehme, der mir in den vergangenen acht Monaten nicht nur mein Leben gerettet, sondern mir auch Freundschaften geschenkt hat, die hoffentlich für dieses ganze Leben halten und der - wider Erwarten - zu einem Zuhause auf Zeit für mich geworden ist.
Und trotzdem sitze ich jetzt hier und habe nur noch 91 Minuten Zeit - warum, frage ich mich?
Warum hab ich mich denn nicht früher darum gekümmert, wo es mir doch immer so wichtig war, das hier perfekt zu machen?
Die Antwort ist eine ganz simple, und dennoch fasst sie das, wofür ich dem TCE so dankbar bin, eigentlich ganz gut zusammen: ich habe mich nicht früher darum gekümmert, hier die perfekte Abschlussbilanz zu halten, weil „Perfekt-Sein“ mir heute nicht mehr ganz so wichtig ist.
Weil es nicht mehr so sehr darum geht, anderen Menschen zu beweisen, wie erfolgreich meine Therapie hier war, sondern es ausreicht, dass ich das weiß.
Weil es nicht mehr so wichtig ist, ob vielleicht jemand denken könnte, ich sei faul oder unengagiert, sondern es mehr darum geht, was ich von mir denke.
Weil ich eben auch mal richtig faul sein und stundenlang Serie schauen oder mir Tik Toks ansehen kann, ohne dass das etwas daran verändert, welchen Wert ich als Mensch habe.
Weil mir mein normales Leben im Laufe der letzten acht Monate, aber ganz besonders während der Stabi(lisierungsphase, Anm. d. TCE), immer wichtiger wurde und Perfektionismus in Bezug auf Therapieaufgaben einfach nicht so viel Platz in einem Kopf hat, der voll von Konzerten, Urlauben, Umzügen und Trash-TV-Gossip ist.
Und vielleicht ist das nicht nur mein eigener größter Segen, sondern auch das größte Kompliment, das ich dem TCE machen kann, das, wofür ich am allerdankbarsten bin; dass ich das TCE nicht nur als das sichere und behütete Nest erleben durfte, das es mir in meiner Anfangszeit hier war, sondern auch und besonders dafür, dass ich hier lernen durfte, dass ich neben einem schützenden Nest und den Flügeln, die mir hier drin gewachsen sind, eigentlich nur noch eins brauche: Den Mut, endlich loszufliegen.
Nina, 21 J. , mittlerweile ehemalige Patientin des TCE